Univ.-Prof. Dr. Andreas Karwautz

Marya Hornbacher— Alice im Hungerland

Marya Hornbacher—Alice im Hungerland. Ullstein TB ISBN: 3548362486; etwa 9 Euro
Rezension von Sylvia Lindorfer

 

„Alice im Hungerland“  (Originaltitel: „Wasted“) ist ein autobiographischer Bericht einer Frau, die mit 9 Jahren an Bulimie, mit 15 Jahren an Anorexia nervosa erkrankte und in den folgenden Jahren an Bulimarexie (Pendeln zwischen beiden Krankheitsformen) litt. Zum Zeitpunkt des Verfassens ihres Werkes war die amerikanische Autorin 23 Jahre alt und bezeichnete sich selbst als von der Essstörung nicht mehr abhängig, sondern nunmehr als „im Kriegszustand mit ihr“ befindlich – ein Zustand, der von ihren Therapeuten als „einigermaßen stabil“ bezeichnet würde.

Der Autorin ist wichtig, die multifaktorielle Genese einer Essstörung aufzuzeigen, d.h. die Zusammenhänge mit der individuellen Biographie, den Essgewohnheiten der Familie, den gesellschaftlichen Einflüssen,... und sie warnt vor zu vereinfachenden Modellen, die zu Schubladendenken und Schuldzuweisungen führen können. Stets betont sie die Durchschnittlichkeit ihrer Lebensgeschichte, das Fehlen herausragender Traumata oder besonders neurotischer Familienkonstellationen, sowie die Tatsache, dass ihre Bulimie eigentlich aus „Neugier“ begann – dass also eine Essstörung grundsätzlich jedem „passieren“ kann. Auch hütet sie sich davor, idealisierend von einer Heilung zu sprechen. Ehrlich berichtet sie über ihren bis heute andauernden täglichen Kampf mit ihrer Störung und die körperlichen Folgeschäden ihrer Krankheit (chronische Hypotonie, Rhythmusstörungen,...).

 

Im ersten Kapitel berichtet Marya Hornbacher über ihre durchaus glückliche Kindheit als Einzelkind in einer relativ normalen Schauspieler – Familie in Kalifornien, die jedoch hinsichtlich des Essverhaltens nicht unauffällig war. So wurde z.B. großer Wert auf kalorienbewusste Ernährung gelegt, sodass die Autorin schon als 5jährige über Zuckergehalt und Nährwert von Lebensmittel bescheid wusste  und Diät hielt. Auch die Mutter pflegte im Essen „nervös herumzustochern“, sehr auf ihre Linie zu achten, war ehemalige Bulimikerin, während der Vater eher maßlos war. Schon früh hatte sie das Gefühl zu dick zu sein und betrachtete ihren Körper als einen mit vielen Makeln behafteten „Fremdkörper“. Interessant ist auch die Beschreibung ihres magischen Denkens in bezug auf Nahrungsmittel und dessen enge Assoziation mit emotionalem Kontrollbedürfnis, das bis ins junge Erwachsenenalter erhalten blieb (3jährig: Sandwich mit genau 20 Bissen essen ® Glücklichsein; 19jährig: 1 Joghurt/Tag in genau 2 h essen ® Sicherheit). Ohne Schuldzuweisungen beschreibt die Autorin die schwierige Familienkonstellation, in der sich die Probleme ihrer sehr unterschiedlichen Elternpersönlichkeiten häufig in das einzige Kind kanalisierten und in der Nahrungsmittel und die Art der Nahrungsaufnahme sehr emotional besetzt waren.

Im zweiten Kapitel schildert Frau Hornbacher das Auftreten von diffusen Ängsten und Zwängen nach dem Umzug der Familie nach Minnesota sowie ihre zunehmende Körperschemastörung im Zusammenhang mit der Pubertät, den Beginn ihrer Bulimie und deren Fortschreiten bis zu mehrmals täglichem Erbrechen und die schon beginnende Idealisierung der Magersucht. Sie versäumt nicht, den Einfluss von gesellschaftlichen Schönheitsidealen aufzuzeigen und ist davon überzeugt, andere Wege der Anerkennung als die Essstörung gewählt zu haben, wenn „Schlankheit“ nicht als so hoher Wert propagiert werden würde.  Sie erklärt jedoch auch, dass sich die Krankheit in ihrem Verlauf von äußeren Umständen löst und schließlich zur emotionalen und körperlichen Sucht wird, in der sich das Streben nach Unabhängigkeit, Bestätigung, Kontrolle, Freiheit,... ausdrückt.

Neben der Bulimie und anorektischen Phasen stellten sich im Laufe der Pubertät der Autorin noch weitere selbstzerstörerische Tendenzen ein: Alkohol, Drogen, Promiskuität – weitere Versuche, die innere Leere zu füllen. Eindrucksvoll beschreibt sie die Gleichgültigkeit gegenüber allem, ausgenommen dem körperlichen Erscheinungsbild, dem Wunsch nach Dünnsein.

Im dritten Kapitel beschreibt Hornbacher, wie sie als 15jährige mit der Wunschvorstellung ins Internat nach Michigan fährt, ganz dünn, anorektisch, mit verklärtem Blick wieder zurückzukehren. Im Wohnheim grassiert die Bulimie, das Fernsein von der elterlichen Aufmerksamkeit lädt viele Jugendliche zur Selbstzerstörung ein. Eindrucksvoll berichtet die Autorin über das Überlisten des hungrigen Körpers, über die Veränderungen des Denkens, der Wahrnehmungen und der Sinneserlebnisse im Hungerzustand.

Das vierte Kapitel behandelt den ersten  Krankenhausaufenthalt der jetzt anorektischen Autorin, die panische Angst vor der sicheren Gewichtszunahme und die daraus resultierende zunehmende Geschicklichkeit im Täuschen und Belügen der Umgebung.

Im fünften Kapitel schildert sie, wie sie diese Kunst den sie betreuenden Ärzten und Psychologen gegenüber weiterführt, ihre Umgebung systematisch täuscht und so geschickt den Eindruck des Genesenseins von der Essstörung hervorruft, während sie immer dünner und kränker wird bis eine weitere Einweisung unumgänglich ist.

So beschreibt Hornbacher im sechsten Kapitel fruchtlose Hospitalisationen, die bald nach der Entlassung zur erneuten notfallmäßigen Einweisung führen. Schließlich wird sie in das psychiatrische Krankenhaus Willmar für eine langfristige stationäre Behandlung überstellt, wo sie sich mit dem kleinen Mitpatienten Duane  anfreundet. Im gelingt es, emotionalen Kontakt mit ihr herzustellen. Zunehmend findet sie wieder Kontakt zu sich selbst, was ihr jedoch auch große Angst bereitet. Sie erfindet einen in der Kindheit stattgefundenen sexuellen Missbrauch, der die Umgebung von ihrem wahren Ich ablenkt und eine hervorragende Erklärung für all ihre Probleme abgibt; nach Aufklärung der „Ursache“ gilt sie bald als entlassungsfähig und „geheilt“.

So folgt im siebten Kapitel der unvermeidliche weitere Rückfall während ihrer Studienzeit. Zunehmend nimmt sie sich wieder „frei vom Essen“ bzw. erbricht nach einem „Anfall von Unbeherrschtheit“.

Im achten Kapitel erfolgt schließlich nach dem Umzug nach Washington der völlige Kontrollverlust: Reduktion der Nahrung auf ein Minimum, Gymnastik, Laxantien-, Kaffee- und Nikotinabusus, manisches Arbeiten, Schlaflosigkeit und schließlich die Notaufnahme mit einem Gewicht von 25 kg.

Ihr Nachwort nennt die Autorin „Das Wrack“ und schildert darin die Folgeerscheinungen ihres knappem Entgehens dem Tod durch Verhungern: ihr frühzeitiges Gealtertsein, ihre faltige Haut und die grauen Haare mit 23 Jahren, Sterilität, Herzrhythmusstörungen, chronische Hypotonie, geschwächtes Immunsystem, den täglichen Kampf mit der Nahrungsaufnahme, aber auch den wiedererwachten Überlebenswillen. Sie bezeichnet sich nicht als von der Essstörung geheilt, aber sie spricht von einer veränderten Essstörung, einem veränderten Selbst, ist verheiratet und fühlt sich „einigermaßen“. Eindrucksvoll berichtet sie über ihre Rückkehr ins Leben, der zunehmenden Fähigkeit des Umgangs mit der Angst vor dem Verschlungenwerden, gegen die die einzige Waffe früher die Essstörung war. Ohne zu romantisieren beschreibt sie ihre heutige Realität und wie sie damit zurechtkommt und genau das ist das bemerkenswerte und hilfreiche an diesem Buch. Es gibt nicht nur einen eindrucksvollen Einblick in die Genese und das Weltbild bei Essstörungen, sondern es räumt auch auf mit romantisierenden, vereinfachenden oder verharmlosenden Vorstellungen über Bulimie/Anorexia nervosa; es zeigt auf, wie grotesk das gesellschaftliche Schlankheitsideal ist, wie sehr wir täglich damit konfrontiert und davon beeinflusst sind und welch fruchtbarer Nährboden für Essstörungen es ist. Natürlich ist es leichter, einfach zu glauben, mit der Schlankheit kommt der Erfolg/das Glück von selbst als sich mit all den komplexen und angsteinflössenden Anforderungen dessen, was „Leben“ heißt, auseinander zu setzen. Trotz des fehlenden „Happy ends“ gibt dieses Buch auch Hoffnung, denn die Autorin hat es trotz schwerer Krankheit geschafft, sich dem Leben wieder zu stellen und mit ihrer Essstörung zurechtzukommen, obwohl diese „nie vorbei ist“.

Diese Autobiographie scheint mir als sehr empfehlenswert sowohl für Angehörige als auch für Betroffene von Essstörungen, da die Autorin sehr verständlich die Hintergründe ihrer Entwicklung analysiert bzw. auch klar sagt, dass vieles einfach auch aus „Neugierde“, aus dem Wunsch heraus, dem wirklichen Leben zu entkommen geschehen ist und dann eine Eigendynamik bekommen hat, zur Sucht geworden ist. Es wird auch deutlich, wie sich das Hungern und die auf das Essen eingeengten Denkprozesse gegenseitig zu einem circulus vitiosus aufschaukeln, der in der Therapie durchbrochen werden muss.

Ich könnte mir vorstellen, dass viele PatientInnen mit Essstörungen in diesem Buch Parallelen zur eigenen Krankheitsentwicklung finden, die in der Therapie bearbeitet werden können. Auch ihre Offenheit was das Lügen/Täuschen der Umgebung betrifft, ist meiner Meinung nach ein wichtiges Thema.

Eine umfangreiche Bibliographie im Anhang erleichtert das Auffinden weiterer spezifischer Literatur.

„Alice im Hungerland“ ist ein ehrliches und schonungsloses Buch. Man hat das Gefühl, die Autorin hat es vor allem mit der Hoffnung geschrieben, es möge anderen PatientInnen mit Essstörungen helfen, früher aus der Krankheit aussteigen zu können als sie selbst es geschafft hat.