Jo Schulz-Vobach: „Ich hab‘ dich nie so lieb gehabt wie jetzt“; Droemer-Knaur 2004; ISBN: 342662544X; 320 Seiten; Preis etwa 7,90 €.

Rezension von Susanne Skale


Ich hab‘ dich nie so lieb gehabt wie jetzt...

... ist ein ergreifender Roman einer Mutter, deren Gefühle zwischen Entsetzen, Angst, Verzweiflung, Mitleid, Liebe, Trauer, Hilflosigkeit, Schuld, Resignation aber auch Wut und Aggression schwanken. Annes älteste Tochter Theresa leidet seit 20 Jahren an Magersucht und Bulimie und hat mehrere Suizidversuche hinter sich.

 

Geplagt vom immerwährenden Gedanken als Mutter versagt zu haben, muss Anne mit anse­hen, wie sich ihre Tochter Stück für Stück zu Tode hungert. Im zarten Alter von fünfzehn be­ginnt Theresa sich als zu dick wahrzunehmen und entscheidet sich, durch Erbrechen Gewicht zu verlieren. Exzessiv betriebene Gymnastikübungen, blättern in Frauenzeitschriften, „Fressanfälle“ gefolgt von Erbrechen und Abführmittelmissbrauch bestimmen Theresas Tagesab­lauf.

Doch schon bald ist Theresas Krankheit nicht nur Teil ihrer Persönlichkeit geworden, sondern die ganze Familie scheint in einen ausweglosen Kreislauf von Selbstzerstörung und Schuldzuweisung geraten zu sein. Die nach außen harmonische wirkende Familienbeziehung ist im Grunde völlig zerrüttet. Häufige Geschäftsreisen des leistungsorientierten Vater verschlechtern mitunter die distanzierte Beziehung zu seiner ältesten Tochter. Er entzieht sich jeglicher Verantwortung für Theresas schreckliche Krankheit mit dem Argument, zu selten zu Hause gewesen zu sein, um dafür haftbar gemacht zu werden. Stattdessen schiebt er die Verantwortung Anne, seiner Frau zu. Sie sei schließlich die Mutter und daher auch für den Haushalt und die Erziehung der Kinder zuständig. Es liege an ihr, wenn in der Familie etwas nicht funktioniere. Am Rande der Verzweiflung kämpft Anne mit den Selbstvorwürfen, schuld an Theresas Krankheit zu sein. Sie muss schließlich akzeptieren, dass es an Theresa selbst liegt sich FÜR das Leben zu entscheidet.

 

Dieses Buch ist noch viel mehr als ein autobiographischer Roman einer verzweifelten Mutter, es ist in gewisser Weise auch ein Fachbuch, welches versucht, Aufschluss über die heute immer noch nicht völlig durchsichtigen Krankheiten Anorexie und Bulimie zu geben. Themen wie Krankheitsursachen, Symptomatik, Krankheitsverlauf, Begleit-, Folgeerkrankungen und Therapieformen bleiben in Schulz-Vobachs Werk nicht unbehandelt. Aber neben den beiden Krankheiten wird besonders auf die Situation von Angehörigen essgestörter Personen eingegangen.

Im Anhang findet man noch eine Kurzinformation über die beiden Krankheiten Anorexia nervosa und Bulimia nervosa. Besonders nennenswert sind die angeführten Kontaktadressen von Beratungsstellen in Österreich, Deutschland und der Schweiz.

 

 

Leseprobe:

„Eine Zeile aus einem Gedicht fällt ihr ein – ‚ich hab dich nie so lieb gehabt wie jetzt‘. Sie kann sich nicht mehr daran erinnern, wer sie schrieb oder wo sie zu lesen war. Die Worte schwingen einfach in Annes Inneren nach. Es ist, als hätte jemand plötzlich eine bisher nur selten benutzte Saite angeschlagen, und sie klingt rein und klar, obwohl sie eigentlich verstimmt sein müsste nach dieser langen Zeit des Schweigens und des Herumprobierens mit Gefühlen.

‚Während ich dich loslasse‘, sagt Anne zu Theresa, ‚liebe ich dich und halte dich in meinen Armen.‘

‚Danke‘, antwortet Theresa mit diesem herzzerreißend gequälten Blick. ‚Ich liebe dich auch.‘ Und obwohl Anne weiß, dass der Augenblick mit dieser köstlichen, alles glättenden Nähe und Ruhe wieder vergehen wird, ergibt sie sich ganz der Wärme in ihrem Innern.“ 1 (S 289 – 290)

 

Susanne Skale

 

Textfeld: 1	Jo Schulz-Vobach; Ich hab‘ dich nie so lieb gehabt wie jetzt. Meine Tochter hat Bulimie; Knaur Taschen-buch (2004); S 289 – 290

Univ.-Prof. Dr. Andreas Karwautz

Jo Schulz-Vobach
Ich hab‘ dich nie so lieb gehabt wie jetzt...